Nachbarschaften


Mit Erreichen der albanischen Grenze verlassen wir die vom Krieg gezeichneten ehemaligen jugoslawischen Staaten und bewegen uns in den kommenden Wochen entlang der Via Egnatia, welche die Adria mit dem Bosporus verbindet. Zusammen mit ihrer westlichen Fortsetzung, der Via Appia, sorgte sie für den Austausch zwischen Rom und Konstantinopel, dem heutigen Istanbul, und verband die historischen Regionen Illyrien, Makedonien und Thrakien. Infolge der modernen Grenzziehung verlor sie jedoch ihre Bedeutung als verbindendes Element.

 

***

 

Mit Albanien bereisen wir eines der ärmsten europäischen Länder. Der erste Eindruck ist jedoch trotz des anhaltend schlechten Wetters durchaus positiv, begleitet uns doch auf den ersten vierzig Kilometer zur Grossstadt Shkodra eine durchwegs neu asphaltierte Strasse. Ungeachtet der Tatsache, dass Albanien seit dem Ende des Sozialismus Anfang der 90er Jahre bedeutende wirtschaftliche und soziale Fortschritte erzielt hat, kämpft der Staat nach wie vor mit massiven strukturellen Problemen. Diese werden uns jedoch erst mit der Fahrt durch das Land allmählich bewusst. Neben der hohen Arbeitslosigkeit und der Korruption sind vor allem die Umweltprobleme offensichtlich. Während der Fahrt von Shkodra durch die Küstenebene über Lezha nach Tirana und weiter ins Zentrale Bergland ist von der oft gepriesenen unberührten Natur nichts zu sehen. Überweidung, illegale Rodung und Zersiedelung prägen weitestgehend die Landschaften bis zu den grossen Ohrid- und Prespaseen im Dreiländereck Albanien, Mazedonien und Griechenland. Zudem sind überall entlang den Strassen und Flüssen Unmengen von Abfall gelagert, sogenannte wilde Müllkippen. Diese sind vor allem auf eine unzureichende Abfallentsorgung zurückzuführen. Ganze Gemeinden kippen ihren Müll an Flussufer um die teuren Entsorgungsgebühren zu sparen. Dieser wird dann im Frühjahr mit dem Hochwasser weggespült und verwandelt die Flussläufe in surreale von Plastik bedeckte Landschaften. Nicht selten werden Wasserflaschen mit albanischem Etikett an kroatischen Stränden aufgefunden.

In positiver Erinnerung wird uns mit Sicherheit die Freundlichkeit und Herzlichkeit der Albaner bleiben. So geschehen als uns ein älterer Mann ohne ersichtlichen Grund von weit weg wildgestikulierend zurief um zu verhindern, dass wir kilometerweit eine gesperrte Strasse langfahren. Des Weiteren bestand er darauf, dass wir nicht zurückfahren, sondern mit seiner Hilfe den knietiefen Fluss überqueren um auf die gegenüberliegende Strasse zu gelangen – wohl wissend, dass die kurze Fahrt zurück bis zur nächsten Brücke weniger Zeit in Anspruch genommen hätte. Nicht ganz untypisch für Albaner, versucht er die vorhandene Sprachbarriere mit italienisch zu überwinden. Immer wieder zeigt sich – für uns eher überraschend – der stärkere Bezug des Kleinstaates zu Italien als zu den nördlich und östlich gelegenen Balkanländern.

 

***

 

Wir verlassen Albanien an dessen östlichsten Punkt und kommen in das historische Gebiet Makedonien. Die wilde Gebirgswelt im Nordwesten Griechenlands ist äusserst spärlich besiedelt und als erstes erwarten uns zwei grosse Hunde auf der kaum befahrenen Strasse. Uns wird flau im Magen, haben wir doch spätestens seit Bosnien und Herzegowina ständig mit den Hunden zu kämpfen. Zu unserer Erleichterung bleiben diese ganz ruhig und schauen uns lediglich neugierig nach. Auf den kommenden fünfzig Kilometer bis zur nächsten Stadt weisen uns mehrfach Schilder mit Abbildungen von Bären und Wölfen auf die vermeintliche Gefahr aus den Wäldern hin. Während der Suche nach einem geeigneten Zeltplatz kommt bei uns der Gedanke auf, dass einige Bären nach ihrem Winterschlaf auf Nahrungssuche sein könnten und so entscheiden wir die Strecke bis nach Kastoria noch an diesem Tag zurückzulegen. Die Bedrohung geht jedoch vielmehr vom Menschen aus. Vor mehreren Jahren wurde eine von der griechischen Westküste zur türkischen Grenze verlaufende Autobahn – in Anlehnung an die Via Egnatia mit dem Namen Egnatia Odos bezeichnet – fertiggestellt. Diese führt mitten durch ein Bärengebiet. Ursprünglich als verbindendes Element geplant, ist sie ironischerweise zum unüberwindbaren und oftmals tödlichen Hindernis für die Bären geworden.

Schon seit den ersten Kilometern in Griechenland fallen uns am Strassenrand immer wieder kleine Kirchen mit Öllämpchen und Heiligenbild, sogenannte Proskinitaria, auf. Diese wurden ursprünglich dazu errichtet, um während des Tages sein Gebet verrichten zu können ohne eine Kirche aufsuchen zu müssen. In neuerer Zeit werden diese auch infolge von Autounfällen erstellt. Begleitet von unzähligen der kaum mannshohen Gebetshäuser setzen wir unsere Fahrt durch die fruchtbare makedonische Tiefebene fort und machen in der Kleinstadt Giannitsa für ein Mittagessen Halt. Foris, der Besitzer der Imbissbude, empfiehlt uns ein paar Kilometer weiter die Kleinstadt Pella, ehemals Hauptstadt des Königreichs Makedonien und Geburtsstadt Alexander des Grossen, zu besuchen. Er weist uns zudem darauf hin, dass wir uns nun im „echten“ Makedonien befinden – eine Anspielung auf den nördlichen Nachbarn. Denn das historische Gebiet Makedonien erstreckt sich nicht nur über den Norden Griechenlands, sondern auch über das heutige Staatsgebiet der Republik Mazedonien. Zwischen den beiden Staaten gibt es seit der Unabhängigkeitserklärung der ehemaligen jugoslawischen Teilrepublik Mazedonien anfangs der 90er Jahre einen Konflikt um die Namensgebung. Der griechische Staat und nicht wenige seiner Einwohner befürchten territoriale Ansprüche auf die nordgriechische Region Makedonien. Hatte dieser Konflikt zu Beginn noch wirtschaftliche Auswirkungen auf den nördlichen Nachbarn, so spielt er heutzutage vor allem eine politische Rolle. Die griechische Blockadehaltung verhindert seit Jahren EU-Beitrittsverhandlungen Mazedoniens.

Wir statten Pella einen Besuch ab. Vor über zweitausend Jahren lag die ehemalige Hauptstadt noch an der Bucht des thermaischen Golfes. Aufgrund von Ablagerungen der angrenzenden Flüsse ist das gesamte Gebiet um Pella verlandet und die Stadt liegt heute fünfundzwanzig Kilometer landeinwärts. Wir müssen also noch einige Kilometer entlang der Via Egnatia abspulen, um von der ehemaligen zur aktuellen Hauptstadt Makedoniens zu gelangen. Weiter östlich und von diesem Verlandungsprozess ausgenommen machen wir Halt in Thessaloniki – der zweitgrössten Stadt Griechenlands. Das heutige moderne Erscheinungsbild der Innenstadt mit ihrer Hafenpromenade, den Boulevards und den schachbrettartig angelegten Strassenzügen ist auf einen Grossbrand anfangs des 20. Jahrhunderts zurückzuführen. Obwohl sich das kulturelle Erbe der Stadt im Stadtbild kaum mehr niederschlägt können wir die Vielfältigkeit Thessalonikis gut bei einem Streifzug durch die Metropole erleben.

 

***

 

In den kommenden Tagen fahren wir begleitet vom guten Wetter entlang der Küste nach Thrakien. Wir geniessen das Meer in vollen Zügen, werden wir doch ab Istanbul für eine längere Zeit auf diesen Ausblick verzichten müssen. Ähnlich wie Makedonien, ist Thrakien eine grenzübergreifende Landschaft und gehört heute zu den Staaten Griechenland, Bulgarien und zum europäischen Teil der Türkei. Wir erreichen das türkisch-griechische Grenzgebiet kurz vor Sonnenuntergang und überlegen uns, einige Kilometer vor der Grenze einen sichtgeschützten Zeltplatz für die Nacht zu suchen. Als uns dann aber patrouillierende und gepanzerte griechische Militärfahrzeuge entgegenkommen überqueren wir notgedrungen die Grenze noch am selben Abend. Die starke Militärpräsenz ist dem Misstrauen gegenüber dem türkischen Nachbarn geschuldet und gründet auf einer jahrhundertealten Rivalität zwischen den beiden Staaten. Noch heute schwelt der Streit um die Grenzziehung in der Region Thrakien sowie in den südlich gelegenen Inseln der Ägäis und führt weiderholt zu Beinahezusammenstössen der beiden Armeen. Zurzeit herrscht in der Region noch ein militärisches Gleichgewicht, ein neuer Rüstungswettlauf mit der Türkei bahnt sich jedoch an. Diesen können die Griechen aufgrund der aktuellen wirtschaftlichen Situation wohl kaum gewinnen – nicht zuletzt haben die horrenden Militärausgaben zu den griechischen Staatsschulden geführt.

Wir lassen das Grenzgebiet hinter uns und fahren entlang der durchgehend dichtbebauten Marmarameerküste bis nach Istanbul. Auf den letzten fünfzig Kilometern bis zum Zentrum der Millionenmetropole am Bosporus quälen wir uns auf bis zu fünfspurigen Strassen mühsam voran. Wir nehmen diese Strapazen bewusst auf uns, denn oftmals sind es diese intensiven Erfahrungen die in Erinnerung bleiben. Istanbul hat in mehrfacher Hinsicht eine besondere Bedeutung für uns. Aufgrund der besonderen Lage über zwei Kontinente ist die Stadt seit jeher eine wichtige Brücke zwischen Orient und Okzident. Ist Istanbul für viele Türken, insbesondere aus ländlichen Regionen, das Tor zu Europa, so betreten wir eine für uns fremde Region. Zudem ist sie – sofern sich unsere Pläne nicht ändern – die grösste Stadt die wir mit unseren Velos bereisen werden. Bevor es jedoch in fremde Gefilde weitergeht, geniessen wir noch ein paar erholsame Tage in Istanbul.