Verwaiste Dinariden

In der Abendsonne verabschieden wir uns von der dichtbesiedelten, lebensfreudigen italienischen Stadt Triest und bemühen uns in den Aufstieg in Richtung der slowenischen Grenze. Die komplizierte Wegführung im hektischen Verkehr lässt eine Grenzüberquerung vor Sonnenuntergang aussichtslos werden. Erst am nächsten Morgen erreichen wir den ehemaligen jugoslawischen Kleinstaat. Das leerstehende Zollhaus ist Zeuge des Beitritts des noch jungen Staates in den Schengen-Raum beziehungsweise in die Eurozone.

Während der kurzen, nur 35 Kilometer dauernden Fahrt durch Slowenien begleiten uns am Strassenrand Öfen mit räuchernden Spanferkel – eine echte Augenweide. Zum Mittag gönnen wir uns dann endlich eine grosse Portion Fleisch, welche in Balkanländern nicht ganz ungewöhnlich ist. Vor dem Genuss hatte man aber als Erstes die Geschichte über das Dorf Podgrad zu lesen. Diese war unübersehbar auf jeder Rückseite der Speisekarte illustriert. Der Status quo des jungen Landes scheint dem Besitzer wohl viel Stolz und Zufriedenheit zu bereiten. Bereits einige Kilometer später befindet sich schon der eingezäunte Grenzübergang zu Kroatien, welcher in der letzten Flüchtlingskrise auch betroffen war. Zum ersten Mal nach 10 Tagen im Schengen-Raum mussten wir unsere Reisedokumente vorzeigen.

Bei der anschliessenden Abfahrt nach Rijeka öffnet sich wieder der Blick aufs Meer. Die nächsten Tage prägen eine zerklüftete und verkarstete Küstenlandschaft mit spärlicher Vegetation. Die sorgfältig für die Badetouristen geteerte Hauptstrasse rückt oftmals mit den Meeresbuchten rein und raus. Nicht ungewöhnlich führt die Strasse auch die schroffen Hänge hinauf, wo man den Blick über die zahlreichen Inseln hinaus schweifen lassen kann. Dank der kalten Wintersaison dürfen wir diese grossartige Natur ungestört geniessen.

Die dichte Beschilderung an Cafés und Zimmern hatte uns die Illusion bereitet, dass wir für die kommenden Tage ebenso gut versorgt seien wie in Italien. Erst bei genauerem Hinschauen realisieren wir, dass unsere Lage nicht ganz so gut war. Alle Dörfer sind menschenleer. Wir fahren 65 Kilometer und beinahe tausend Höhenmeter im Regen und Wind mit knurrendem Bauch von Senj nach Karlobag ohne einen Laden gesehen zu haben. Dasselbe Schicksal soll uns auch auf der Fahrt weiter bis nach Starigrad einholen. Durchnässt und frierend kommen wir in Karlobag an. Eine warme Dusche wäre für diesen Moment sehr wohltuend. Erfolglos durchsuchen wir die nördlich im Hang gelegene leere Siedlung, in der wohl alle Ferienhäuser einen majestätischen Blick aufs Meer freigeben würden. Später klappt es dann nach mehrmaligem Fragen in einer unscheinbaren Nebenstrasse.

Mit der Hoffnung auf ein milderes Klima verlassen wir die norddalmatinische Küste in ihrem Winterschlaf und fahren kurz vor Zadar in die Tiefe des dinarischen Gebirges. Das Landesinnere der Balkanhalbinsel ist grösstenteils gebirgig und durch unzählige sogenannte Poljen geprägt. Der andauernde Niederschlag hatte uns bereits stark zugesetzt. Die Natur entfaltet hier jedoch ihre volle Pracht, indem sie die buschigen, großflächigen Ebenen der Poljen im Wasser ertrinken lässt. Insbesondere nach einem Regenschauer erzeugen die aus dem Wasser ragenden Baumkronen eine märchenhafte Szenerie. Eine Übernachtung im Zelt in dieser schönen Wildnis kann man leider nur mit Vorsicht geniessen, hat doch der jüngste Jugoslawienkrieg seine Spuren hinterlassen. Unaufgeräumte Minen, vorwiegend auf bosnischem Territorium, erinnern noch immer an die vergangene Zeit. Die Strecke zwischen Obrovac in Kroatien und Livno in Bosnien und Herzegowina ist bis auf ein paar Städtchen sehr dünn besiedelt. Verlassene Dörfer, zerstörte Häuser und zahlreiche Friedhöfe prägen das Bild dieser Region. Wir wollen der Minengefahr entgehen und fragen deswegen die Einheimischen in Bosnien immer nach einer Übernachtungsmöglichkeit. Glücklicherweise finden wir auch in den kleinsten Dörfern immer eine Art bescheidener „Sobe“.

Nach der regnerischen Zeit im Gebirge freuen wir uns auf das für seine überdurchschnittlich hohen Temperaturen bekannte Mostar am Fluss Neretva. Die Abfahrt ins Tal ist alles andere als gemütlich und erholsam. Der Wind, bis anhin eher Freund als Feind, erwartet uns hier in voller Stärke mit Böen von bis zu 80 km/h. Völlig erschöpft kommen wir in Mostar bei Fatima an, einer muslimischen Bosniakin, die während des Krieges in Deutschland Asyl gesucht und nach der Rückkehr ihr Zuhause auf dem westlichen Ufer der Neretva eingerichtet hat. Der Graben zwischen den katholischen Kroaten am Westufer und den muslimischen Bosniaken im Osten scheint in Mostar nicht mehr so präsent zu sein. Nicht weit entfernt von Mostar, in der charmanten Stadt Stolac, der Heimat von Fatima, hat uns der muslimische Schriftsteller Jasminko Šarac ein goldenes Kreuz geschenkt, mit der Überzeugung man könne aus jeder Religion für sich das richtige Herausnehmen. Eine großartige Geste!

Nach Stolac führt uns unser Weg über vorwiegend von Serben bewohntes Gebiet hoch zu den schwarzen Bergen. Die erste Nacht in Montenegro verläuft sehr turbulent. Unser Zelt fällt nach einem unerwarteten Schneefall in sich zusammen. Um Mitternacht kriechen wir unter einer dicken Schneedecke hervor und müssen unser Zelt erneut spannen. Am nächsten Morgen wachen wir in einer verschneiten Winterlandschaft auf. Wir kämpfen uns im Schneesturm auf unaufgeräumten Strassen über Niksic bis nach Podgorica ins Tal. Die sonst immer rasenden Lastwagen stehen jetzt in Schlangen auf der vereisten Strasse und können sich nur mit Schneeketten mühsam vorwärtsbewegen. Nach ein paar akrobatischen Einlagen, zwei Bodenkontakten und einem lädierten Knie von Ying müssen wir teilweise absteigen und die Velos kilometerweit schieben. Das ersehnte, gute Wetter ist definitiv nicht eingetreten. Auf der Suche nach dem Frühling fahren wir ohne grosse Pause weiter gegen Süden.